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6. bis 26.Dez. 1801
26. Dez. 1801 bis Jan. 1802
Jan. bis 19. Feb. 1802
20. Feb. bis März 1802
März bis Apr. 1802
Wo Seume übernachtet



Veritatem sequi et colere,
tueri justitiam,
aeque omnibus bene velle ac facere,
nil extimescere.


Der Wahrheit folgen und sie pflegen,
die Gerechtigkeit schützen,
für alle in gleicher Weise
das Gute wollen und tun,
nichts fürchten.

Ich fühle sehr wohl,
dass diese Bogen keine Lektüre für Toiletten sein können.
Dazu müsste vieles heraus und vieles müsste anders sein.
Wenn aber hier und da ein guter,
unbefangener,
rechtlicher,
entschlossener Mann einige Gedanken für sich und
andere brauchen kann,
so soll mir die Erinnerung Freude machen.



Die Sorge flieht und löst in reichlich Wein sich auf (Ovid)





Johann Gottfried Seume:
Spaziergang nach Syrakus 1801/1802

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Ein blauer Frack, zwei Westen, zwei Hosen, zwei Unterhosen, zwei Paar Strümpfe, vier Halstücher, zwei Taschentücher, ein Paar Straßenschuhe, ein Paar Pantoffeln, ein Paar Stiefel, Flickzeug, eine Bürste und zwei Notizbücher.
Bücher: Jeweils ein Band von Homer, Theokrit, Anakreon, Platus, Horaz, Virgil, Tacitus, Sueton, Terenz, Tibull, Catull und Properz.
Von Grimma bis Neapel zu Fuß, per Segelschiff weiter bis Palermo.
Ihn zu charakterisieren fällt schwer:
Republikaner, der Kirche und Adel bekämpft, aber Hoffnungen in aufgeklärte Monarchen setzt.
Soldat, der in Amerika und Polen kämpft. Idole, auf die er baut, versagen: Napoleon verrät die Revolution, Fürsten ihre Nation.

Knapp 40 ist der Bauernsohn Johann Gottfried Seume aus Poserna, Kursachsen, als er loswandert.
8 Jahre später ereilt ihn der Tod.
1781 verschwindet der achtzehnjährige Theologiestundent Johann Gottfried Seume aus Leipzig, nachdem er kurz vorher alle seine kleinen Schulden bezahlt hat. Weder seiner Mutter noch seinen Bekannten hinterlässt er irgendeine Nachricht. Der in der „Leipziger Zeitung“ erschienene Suchaufruf und alle Nachforschungen sind ohne Erfolg. Seume will nach Paris wandern. Das Studium der Theologie, das er nach gründlicher humanistischer Ausbildung an der Leipziger Nikolaischule begonnen hat, befriedigt ihn nicht, er hat innere Zweifel und glaubt, dies dem Grafen von Hohenthal-Knauthain, der ihm das Studium finanziert, nicht erklären zu können. Vielleicht kann er von Paris aus später in die Artillerieschule in Metz eintreten. Seume soll die Unrast sein Leben lang nicht verlassen.
9 Taler und Tacitus hat er in der in der Tasche, am dritten Tag fällt er hessischen Werbern in die Hände, der Landgraf von Hessen-Kassel verkauft ihn und Hunderte Schicksalsgefährten als Söldner an England, um gegen Nordamerikas Unabhängigkeit zu kämpfen.

Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: Niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriss man meine akademische Inskription, als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muss man überall: Wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und und zu sehen gab es jenseits auch etwas.
In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschlage in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war; und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann. Wenn viere darin lagen, waren sie voll, und die beiden letzten mussten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt; es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! - und es wurde umgeschichtet.


22 Wochen nach der Ausfahrt aus der Weser landen die Transportschiffe in Halifax/Neuschottland. Der Unabhängigkeitskampf der nordamerikanischen Kolonien ist aber so gut wie entschieden, außer ewigem Exerzieren passiert nichts. Seume rückt zum Sergeanten auf und findet im deutschen Offizier


Freiherrn Heino von Münchhausen

einen Freund, mit dem er jede freie Stunde verbringt.
1783 landet er wieder in Bremen. Seume desertiert, will nach Sachsen. Er fällt preußischen Werbern anheim, die ihn wieder zum Militärdienst zwingen, nach zwei weiteren Fluchtversuchen lautet das Kriegsgerichtsurteil zwölfmaliges Spießrutenlaufen, dann sechs Wochen Arrest bei Wasser und Brot. 4 Jahre muss er die preußische Uniform tragen. Mit 24 beendet er sein Studium in Jura, Philosophie, Philologie und Geschichte, promoviert.
Seume wird Sekretär mit Offiziersrang beim russischen General von Ingelström, erlebt 1794 die Niederwerfung des polnischen Kościuszko-Aufstandes, auf den Trümmern Warschaus soll er während der Straßenkämpfe im Feuer gesessen und Homer gelesen haben, kommt in polnische Gefangenschaft und entgeht mit knapper Not dem Tode. Nach der Rückeroberung Warschaus durch die Truppen Suworows befreit kehrt er 1796 nach Leipzig zurück.

Er arbeitet in Grimma als Korrektor bei seinem Freund, dem Verleger Georg Joachim Göschen, 1797 veröffentlicht er mit Münchhausen den gemeinsamen Gedichtband 'Rückerinnerungen' und startet 1801 zu seiner großen Reise.
Ohne Geld im Winter zu Fuss nach Syrakus, seinem Begleiter wird es bald zu gefährlich, er kehrt um. Seume geht weiter, fast 6.000 km, zwei Mal wird er überfallen und ausgeraubt, das Messer am Hals.
Aber er sieht weniger «das Land, wo die Zitronen blühen», als die Armut der kleinen Leute. Seume, der Bauernsohn, erzählt von verräucherten Kneipen und zwielichtigen Spelunken, von Ungerechtigkeit und Not. An bedeutenden Stätten der Antike geht er trotzig vorbei:

Ich lief eine Stunde in Pompeji herum und sah, was die anderen auch gesehen hatten.

Respektloser Gegenentwurf zu Goethes Italienischer Reise, die Heroen der Weimarer Klassik stehen römischen Feldherren und griechischen Philosophen gedanklich und menschlich näher als der Magd in der eigenen Küche.
Auch wenn er mitunter auf eine Kutsche aufspringt, und manche, an einem Wintertag bewältigte Tagesetappe von sieben deutschen Landmeilen (das sind mehr als 50 km!) als unwirklich erscheint, ist sein Reisebericht etwas anderes als die, die sich dem Marmor italienischer Paläste und anderen Altertümern widmen. Er schreibt von der Wirklichkeit entlang des Weges, sitzt in Wirtshäusern bei den Menschen, erfährt, wie es ihnen geht in der Zeit der großen napoleonischen Eroberungen.
Seumes Buch ist der Bericht eines politischen Menschen, der seine Zeitkritik im Reisebericht nur wenig versteckt, so wenig, dass der Verlag, bei dem er als Lektor arbeitet, nicht bereit ist, den Bericht herauszubringen, und dass auch heutige Ausgaben die zeitkritischen Stellen oft noch streichen. Und in der Gegenwart begeben sich immer wieder Reisende auf Seumes Weg nach Syrakus, wollen „Ich bin dann mal weg" erleben.
Die Poststraßen, auf denen Seume spaziert, belegen heute meist Autobahnen. Aber die Wirtshäuser, Biertische, Weinfelder, die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse können wir noch immer erleben.
Seumes Buch ist das Buch eines Mannes, der die Welt erfährt, indem er sie durchläuft. Ein lohnendes Buch für die, die im Fitnessstudio auf einem Laufband stehen und auf die virtuelle Welt eines Monitors schauen.