Cranachs Storys
Herderkirche Weimar
Zwei Superintendenten sui generis


Auch wenn es einem rationalen, atheistisch gesonnenen Menschen nicht ins Hirn will, was die Kirche seit 2.000 Jahren an Ideen verbreitet und versucht, den Ungläubigen es pseudowissenschaftlich zu verklickern, muss man nur staunen, wie tief all das in der Kultur des "Abendlands" verwurzelt ist.
Schauerliches Beispiel - und doch große Kunst - das Altarbild in der Kirche St. Peter und Paul in Weimar.

Besser kann man den absurden christlichen Glauben, wie ihn die Kirche lehrt, und die Nähe von Thron und Altar - bis heute - nicht verdeutlichen!
Unfassbar auch, dass ein aufgeklärter Mensch, der vor der Kirche übergroß steht und nach dem sie auch heißt - Herder - das alles ernsthaft und mit gutem Gewissen predigen konnte.
Und ist das Drama, in dem Pfarrer Reder 1988 in dieser Kirche eine Hauptrolle spielt, nicht absurd - und konsequent? Herr Superintendent ein Stasi-Spitzel?

Das Gemälde:

Als erstes fällt - neben den unerklärlichen Schwüngen des Lendentuchs - die Spur des Blutspritzers zum Haupt des mittleren der drei Männer auf, die rechts neben dem Kreuz stehen: Lucas Cranach d. Ä., dem man lange die Urheberschaft am Gemälde zuschrieb. Tatsächlich aber hat es sein Sohn, Cranach d. J. 1554/55 gemalt.

Lucas Cranach d. Ä. schaut durch uns hindurch.

Seine safrangelben Lederstiefel und der pelzbesetzte Mantel bezeugen Wohlstand (er hat mit seiner Werksstatt ca. 5.000 Bilder produziert!) und Würde. Als Bürgermeister steht er an der Spitze des Wittenberger Gemeinwesens und tritt 1540 für die Hinrichtung von Prista Frühbottin, ihrem Sohn Dictus und zwei weiteren Personen wegen Hexerei ein; man schmaucht sie. Cranach verwewigt die Heldentat in einem Holzschnitt! ["Zu Wittenberg schmäuchte man auch vier Personen, die an eichenen Pfählen emporgesetzt, angeschmiedet, und mit Feuer wie Ziegel jämmerlich geschmäucht und abgedörrt wurden"].

Die Kirchenleute interpretieren den gezielten Blutstrahl aus der Wunde des Gekreuzigten auf Cranachs Haupt so:
Er soll uns sagen: "Seht, ich bin Lucas Cranach, der berühmte Künstler." Zu verstehn.
Das Folgende aber nicht mehr (Vernuftmensch denkt an Gene und Arbeit): "Aber was ich bin, bin ich durch das, was Christus für mich tat". Was denn? Vor 2000 Jahren?

Lassen wir Herrn Geheimen Legationsrat Goethe zu Wort kommen, er sieht das Ganze als politisches Monument. Goethe ist 1775 nach Weimar gezogen und erst 1776 besucht er die Stadtkriche St. Peter und Paul, seit vier Wochen damit beschäftigt, die hinter der Kirche liegende Superintendentur für seinen Freund Johann Gottfried Herder herrichten zu lassen.
In einem saloppen Brief an den Freund:

Und, Bruder, war auch zum erstenmal in der Kirche. Ich dacht schon dir wirds doch wohl werden Alter wenn du da oben stehst, und rechts in dem Chor des unglücklichen Johann Friedrich Grab, und seinen Nachkommen den besten iungen gegen dir über, der wohl die Chur werth wäre, werth dass das schicksaal dem wieder gäb was es ienem nahm. und Herzog Bernhards Grab in der Ecke und all der braven Sachsen Gräber herum und auf des Altar Blats Flügel den Johann Friedrich wieder in Andacht und die seinen von seinem Cranach und in der Sacristey Luther in drey Perioden von Cranach, immer ganz Luther und ein ganzer Kerl. ganz Mönch, ganz Ritter und ganz Lehrer

Zum Verständnis:



Auf dem linken Seitenflügel Herzog Johann Friedrich und seine Gemahlin Sibylle von Jülich-Cleve-Berg. Auf dem Wappen Johann Friedrichs die gekreuzten Meißner Schwerter als Zeichen seiner ehemaligen Kurwürde, die seinen Anspruch dokumentieren, die Kur (Wahlrecht zum römisch-deutschen König) wieder zu erlangen. Im Goldbrokat über dem Herzogpaar: "V D M I Æ" Wahlspruchs Johann Friederichs: Verbum Domini manet in Aeternum (Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit, Jesaja 40,8)

Auf dem rechten Altarflügel die drei Söhne des Herzogpaares - Johann Friedrich II., Johann Wilhelm und Johann Friedrich III., in Haltung und gleicher Größe wie das fürstliche Paar. So legitimieren die Söhne nach dem Tod der Eltern ihren Machtanspruch.

Mit dem »unglücklichen Johann Friedrich« meint Goethe dessen Niederlage in der Schlacht bei Mühlberg von 1547. Das Heer Kaiser Karls V. besiegt die Truppen des Schmalkaldischen Bundes. Der Führer der Protestanten, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, gerät in Gefangenschaft, für den Kaiser ist der Schmalkaldische Krieg gewonnen.
Die Niederlage bedeutet das Ende des Schmalkaldischen Bundes.
Johann Friedrich verliert die Kurwürde und große Teile seiner Länder an den mit Karl V. verbündeten Herzog Moritz von Sachsen.

Obwohl erst seit vier Wochen im Amt, nimmt Goethe mit den Augen eines sachsen-weimarischen Politikers auch nur die politische Seite des Cranach’schen Bildprogramm wahr.

Goethe Herder

Luther stirbt 1546, das Gemälde datiert von 1555. In dieser kurzen Zeit hat Kurfürst Johann Friedrich erst seine Machtposition verloren, dann in reduzierter Form zurückerhalten. Er stirbt 1554 mit knapp 51 Jahren; nach ihm regieren seine drei Söhne. Gleichzeitig zersplittert die protestantische Theologie immer weiter. In dieser unsicheren Lage können nur noch die ernestinischen Landesherren den Fortbestand des wahren Luthertums garantieren – so verkündet es das politisch-theologische Bildprogramm des Triptychons.

Die gemalte Predigt (wer konnte schon Lesen und Schreiben?) erzählt Storys aus dem alten und dem neuen Testament, die Indoktrination beginnt: Menschen können Gottes Gebote (woher sollen sie die kennen?) nicht halten und sind des Todes (wir alle müssen sterben). Aber von Gott angenommen, haben sie an der Auferstehung (wie geschah die?) Jesu Anteil (wie?).
Am Querbalken des T-Kreuzes steht I.N.R.I (Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum - Jesus von Nazareth, König der Juden (Spott der Römer?).

Am Stamm finden sich die Jahreszahl 1555 und das Cranachsche Wappen: Eine geflügelte und gekrönte Schlange, die einen Ring im Maul hält.
Märchen:
Jesus ist drei Mal zu sehen: Einmal am Kreuz, dann

links von sich selbst als Auferstandener (?), der Tod (wie?) und Teufel (gibt es den?) besiegt. Und zwar mit einer durchsichtigen Fahnenstange, die überirdisch wirkt wie eine Lanze aus Licht, und hinter ihm die verschobene Platte des Grabes, aus dem er stieg (?).

Und zum dritten Mal hat er sich zu seinen eigenen Füßen in ein Lamm verwandelt und hält eine Siegerfahne mit Selbstlob hoch: Ecce Agnus Dei Qui Tollit Peccata Mundi - Siehe das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt fortträgt (Johannes 1, 29) - (dass es sich nicht überhebt!)

Das Symbol des Lammes soll an den Auszug des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten erinnern. ["Am zehnten Tage dieses Monats nehme sich ein jeder ein Lamm ... ein fehlloses, männliches, einjähriges Lamm soll es sein; von den Schafen oder Ziegen sollt ihr es nehmen ... Am vierzehnten Tage dieses Monats soll die ganze Gemeinde Israels es schlachten um die Abendzeit. Und sie sollen von dem Blute nehmen und die beiden Türpfosten und die Schwelle an den Häusern, in denen sie es essen, damit bestreichen, das Fleisch aber sollen sie in derselben Nacht noch essen und ungesäuertes Brot mit bitteren Kräutern dazu" (Exodus 12, 3-8)].

Der Weg der Israeliten in die Freiheit wird hier zur Rettung der Menschen durch Jesus in Beziehung gesetzt (weit hergeholt!).


Johannes der Täufer aber erkennt selbstredend im Lamm Jesus, der der Welt Sünde trägt.

Der ganz rechts stehende Martin Luther hält eine Bibel in der Hand (verkehrt herum, damit der Betrachter den Text lesen kann) und weist auf drei Stellen des Neuen Testaments hin.
Kannibalismus:
"Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde" (1. Johannes 1, 7b)
Hebräer 4, 16: "Darum lasst uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Thron der Gnade (wo ist der?) und Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hilfe Not sein wird."
Wie viele Menschen haben wohl im Laufe der Jahrhunderte umsonst vor diesem Altar gestanden, gebetet und Trost gesucht?

Und eben dieser Luther mit der Bibel in der Hand hat das geschrieben:

Was sollen wir Christen nun tun mit diesem verdammten, verworfenen Volk der Juden?

  • Erstlich, das man ire Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbrennen will, mit erden überheufe und beschütte, das kein Mensch ein stein oder schlacke davon sehe ewiglich. Und solches sol man thun, unserm Herrn und der Christenheit zu ehren damit Gott sehe, das wir Christen seien.
  • Zum anderen, das man auch ire Heuser des gleichen zerbreche und zerstöre, Denn sie treiben eben dasselbige drinnen, das sie in iren Schülen treiben. Dafur mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner, auff das sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande.
  • Zum dritten, das man inen nehme all ire Betbüchlein und Thalmudisten, darin solche Abgötterey, lügen, fluch und lesterung geleret wird.
  • Zum vierten, das man iren Rabinen bey leib und leben verbiete, hinfurt zu leren.
  • Zum fünften, das man die Jüden das Geleid und Straße gantz und gar auffhebe. –
  • Zum sechsten, das man inen den Wucher verbiete und neme inen alle barschafft und kleinot an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwaren.
  • Zum siebenden, das man den jungen, starcken Jüden und Jüdin in die Hand gebe flegel, axt, karst, spaten, rocken, spindel und lasse sie ir brot verdienen im schweis der nasen.


Luther setzt noch eins drauf:
Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, so diese 1.400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Wenn ich könnte, so würde ich ihn niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, dass wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein … sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.

Adolf Hitler,
der oft im "Elefanten" in Weimar weilt, sagt: "Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung; sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen... Ich tue nur, was die Kirche seit fünfzehnhundert Jahren tut, allerdings gründlicher."

Wie gründlich die Nazis das taten, kann jeder etwa in Weimar im KZ Buchenwald besichtigen.

Zum Hintergrund des Cranach-Bildes:
Links vom Gekreuzigten läuft ein Mensch im Lendentuch mit erhobenen Armen dem Feuer entgegen, Tod und Teufel verfolgen ihn.

Interpretation der Kirche: Es ist Adam der Mensch. Sein Blick ist auf die Tafel mit den zehn Geboten gerichtet. Moses zeigt die Tafeln den Ältesten des Volkes Israel. Adam kann die Gesetze Gottes (Wer kennt die?) nicht aus eigener Kraft halten (Wieso? Sadismus des Gotts?). In seinem Leben wird er schuldig. Aus sich heraus vermag er nichts mehr. Sein Weg scheint ausweglos: Kehrt er um, gerät er Tod und Teufel (Wer hat die erschaffen?) in die Hände, läuft er nach vorn, ist ihm sein Ende im Feuer sicher.
Nun der geniale Trick der Kirche: Der einzig Ausweg für Adam besteht, wie für alle Menschen, im Glauben an Jesus Christus, der Tod und Teufel besiegt hat, wie im Bild links gezeigt, im Schoß der Kirche. Schön wärs.






Johannes 3,14: "Wie Moses in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Mensch erhöht werden, damit alle die, an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben erhalten." (Unverständlich)

Vor einem Zeltlager schauen Männer, Frauen und Kinder auf zu einer Schlange an einer Stange. Weitere Menschen liegen tot am Boden. Auf dem Weg der Israeliten aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit greifen Schlangen die Flüchtenden an. Gott verspricht seinem Volk (Juden!) Rettung, wenn sie eine eherne Schlange ansehen, die Moses an eine Stange anbringen soll. (4. Mose 21, 4-9) Luther widerspricht dem Gottt der Juden. Nicht der Blick auf die Schlange errettet die Menschen, sondern der Glaube an das Wort Gottes ("sola fide" - allein durch den Glauben).

Und wieder eine schöne Story:
Ganz oben schwebt ein Engel im goldenen Licht am Himmel und über den Herden von Bethlehem. Er verkündet den Hirten die Geburt Jesu.





Auf der Rückseite der Altarflügel sind Taufe und Himmelfahrt des Phantoms Jesu dargestellt.



Ein Superintendent verschwindet

Hans Reder lebt im Jahr 2016 in einem 1600 Seelen-Ort, etwa 20 km nördlich von Kasselso, als wolle er nicht mehr gefunden werden, wo er auch 87jährig stirbt. Das Haus selbst liegt versteckt, etwas versetzt zur Dorfstraße. Die Mietwohnung hat er kurz nach seiner Ausreise aus der DDR bezogen, ein knappes Jahr nach dem Ereignis von Weimar, das ihn zerstört und gebrochen hat, wie er sagt.
Mit 16 eingezogen, haben ihn seine Kriegs-Erlebnisse seelisch tief erschüttert. Als Soldat, zum Bahnhofsdienst eingeteilt, kümmert er sich um die auf ihrer Fahrt aus der Luft beschossenen Züge von der Westfront. Das Blut sei aus den Waggons rausgelaufen und die Menschen seien furchtbar zugerichtet gewesen. Er spricht von schrecklichen Alpträumen, die er seitdem hat.
Reder will Jurist werden, doch sein bürgerliches Elternhaus lässt einen Studienplatz für Jurisprudenz in der SBZ nicht zu, er wird Theologe.
Erste Pfarrstelle im Thüringer Wald, danach Pfarrer in Berlin und erster Kontakt mit der Staatssicherheit. Am Alexanderplatz sei er drei Stunden verhört worden wie im Film: Herabgelassene Jalousien, angestrahlt von einer Tischlampe blasen ihm die Vernehmer Zigarettenrauch ins Gesicht. „Beihilfe zur Republikflucht“ lautet der Vorwurf. Einer seiner Mitarbeiter schleuste junge Menschen von Ost- nach West-Berlin. Reder ist offensichtlch nicht involviert, man lässt ihn laufen.
1970 hat er die Möglichkeit, eine Auslandspfarrdienststelle in Schweden anzutreten. Er spricht die Sprache, hat dort Familie. Im Zuge dieser Bewerbung muss er beim Staatssekretär für Kirchenfragen vorsprechen. Der habe sein Ansinnen unterstützt, wollte aber sicher gehen, dass er später wieder in die DDR zurückkomme. Er solle eine Rückkehr-Erklärung unterschreiben. Von einer Absichtserklärung zur Mitarbeit bei der Stasi könne keine Rede sein. Nach Reders Auffassung gab es keine Zusammenarbeit mit dieser „Behörde“. Reder, der persönliche Beziehungen zu hochrangigen westdeutschen Politkern hatte, ist überzeugt, auch deswegen unter Beobachtung der Staatssicherheit zu stehen. „Ich hatte hin und wieder Kontakt mit einem Mitarbeiter des Außenministeriums, wenn es darum ging, Reisen vorzubereiten. Mehr nicht!“ Später ergänzt Reder, dass er ein- bis zweimal im Jahr Gespräche mit Mitarbeitern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten hatte, bei denen es aber ausschließlich um eine Erörterung und Beurteilung spezieller außenpolitischer Sachfragen gegangen sei. Nach Schweden ging Reder nicht.



Es ist der zweite Adventssontag 1988, ein kühler grau-trister Dezembermorgen. In der Herderkirche in Weimar soll an diesem Tag Superintendent Hans Reder neben dem Gottesdienst einen jungen Mann aus Halle taufen und ein Ehepaar aus Leipzig zur Goldenen Hochzeit einsegnen. Seit zwölf Jahren ist Reder im Amt. Sein geistiger Horizont ist groß und weit. Er versteht sich auszudrücken. Der Theologe Wolfram Lässigt: „Ein brillanter Rhetoriker, ganz im Sinne seines Namens." In der engen und kleinen DDR wirken Reders Kontakte und Reisen ins Ausland beeindruckend, er gibt sich weltmännisch und kommt direkt aus der Hauptstadt ins beschauliche Weimar. Gegen 9h betritt Reder seine Kirche, um letzte Vorbereitungen zu treffen.

An diesem 4. Dezember haben sich fünf Ausreisewillige in der Sakristei verschanzt. Sie wollen damit ihrem Antrag auf Ausreise in die BRD Nachdruck verschaffen. Der Superintendent ist wütend, brüllend stürmt er durch das Kirchenschiff auf die Sakristei zu. In dem Raum befindet sich sein Talar, Haustürschlüssel und Predigtkonzept.
„Gebt mir meine Sachen raus", poltert er. Das ist bereits die vierte Besetzung. Die Herder-Kirche ist für diese Art der Okkupation prädestiniert, es gibt sanitäre Anlagen, die ein längeres Verweilen zulassen. Außerdem erkennt er zwei Besetzer aus früheren Aktionen. Diesmal will er durchgreifen. Sie gehen, sagen die fünf Erwachsenen, nicht eher, als bis sie die Zusage zur Ausreise haben. Unter ihnen befinden sich drei promovierte Ärzte. Reder möchte die Oppositionellen herausdrängen, es kommt zum Tumult. Volker Brüheim, einer der Besetzer: „Reder wollte uns die Sachen, die wir dort deponiert hatten, wegnehmen. Wir zogen die Taschen an uns. Reder nahm das wohl als Handgemenge wahr.“
Ohne ausgearbeitete Predigt und mit einem Ersatztalar versieht der Superintendent seinen Dienst, konstatiert eine bleierne Schwere über dem gesamten Gottesdienst.



Reder will den Landesbischof von Eisenach anrufen, erreicht ihn aber nicht. Also ruft er die Polizei. Er spricht von Hausfriedensbruch und Körperverletzung. Die Besetzer sollen nach dem Gottesdienst festgenommen werden. (Den zuständigen Oberkirchenrat Hans Schäfer zu informieren, weigert sich Reder: Der sei zu weich, diskutiere zu viel, er nähme das auf seine Kappe.)
Die Besetzer geben nicht auf, auch nicht, als die Stasi ihnen verspricht, ihnen passiere nichts. Reder wird ungeduldig, ihm ist kalt: „Nun walten Sie Ihres Amtes!“ Damit lässt er die Anwesenden allein. Die Ausreisewilligen verlassen die Kirche durch die Hintertür - in Handschellen.
Der Gemeindekirchenrat distanziert sich von dem gewaltsamen Ende der Kirchenbesetzung. Im Januar 1989 spricht die Mehrheit der Mitarbeiter Hans Reder das Misstrauen aus. Reder, uneinsichtig, fühlt sich verkannt. Im März geht er in den Vorruhestand und bemüht sich um Ausreise. Die fünf Kirchenbesetzer sitzen bereits verurteilt im Gefängnis. Im Oktober, noch vor Grenzöffnung, verlässt Reder beinahe unbemerkt die Stadt.



Als ihn ein Reporter 2016 aufsucht, ist Reder noch immer zutiefst überzeugt, dass Menschen ihre eigenen persönlichen Wünsche nicht dadurch zum Ausdruck bringen dürfen, dass sie eine Kirche besetzen. Bei der Herder-Kirche in Weimar handele es sich um eine der ehrwürdigsten Kirchen Mitteldeutschlands. Die Kirchenbesetzung könne kein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein.
Er sieht in der Besetzung eine Entweihung der Kirche. „Ich musste die ganze Zeit an die Tempelreinigung Jesu denken. Der hat die Händler und Geldwechsler doch aus dem Gotteshaus geworfen, weil sie dort ihre eigenen Interessen zu ihren Gunsten wahrnehmen wollten.“
Der Staat sei zum Handeln verpflichtet gewesen, um die Würde des Gottesdienstes wieder herzustellen.
Er habe doch auch explizit keine Anzeige erstattet. Die Polizisten hätten ihn ja noch gefragt, ob er das wolle, er habe das verneint, er wollte nur, dass die Kirche wieder frei sei. In einer Aktennotiz des MfS des gleichen Tages jedoch steht, dass Reder mündlich Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und Behinderung bei der Pfarrtätigkeit erstattet habe.



Wolfram Lässig, Nachfolger Reders als Superintendent: "Reder hat rein formaljuristisch betrachtet rechtens gehandelt. Die Besetzer sind widerrechtlich in die Sakristei eingedrungen und haben Reder seine persönlichen Sachen vorenthalten, außerdem muss ein Pfarrer natürlich auch den gottesdienstlichen Ablauf schützen. Darauf hat sich Reder ja immer berufen. Was Recht ist, kann trotzdem falsch sein. Statt die Hilfe- und Zufluchtsuchenden zu unterstützen, hat er sie ans Messer geliefert.“
Jobst-Dieter Hayner, damals Reders Stellvertreter: „Reder war zu keiner Zeit bereit, bezüglich seines Krisenmanagements während der Kirchenbesetzung Fehler einzugestehen.“ Das sei ihm insgesamt sehr schwer gefallen.


Reder im Jahr 2015, + 2016

Um Vergebung hat Reder die fünf Besetzer nie gebeten, auch 2016 fühlt er sich noch juristisch und moralisch im Recht: „Die Besetzer wussten, was sie taten. Sie haben dieses Gotteshaus entweiht. Das hat mich empört, auch dass es viermal hintereinander passiert ist.“ Ihm sei einfach der „geistige Kragen“ geplatzt. Und schließlich habe es danach auch keine Kirchenbesetzung in Weimar mehr gegeben.
Dass die DDR ein Unrechtsstaat war, der oft geringfügige Vergehen unverhältnismäßig hart bestrafte und man seine Rechte nicht einklagen konnte, lässt er nicht gelten. Er beruft sich aber auf seine angeschlagene Gesundheit.
"Ich warte auf meinen Tod! … Sicherlich war ich kein Reformer oder Friedenskämpfer, ja und vielleicht war ich zu arglos, aber ich bin kein Schwein gewesen. Ich habe niemanden verraten!“

War Reder IM? In den MfS-Unerlagen taucht lediglich der Deckname „Beier“ auf, Reders Klarname erscheint nicht, was auch nicht ungewöhnlich ist, wohl aber die genaue Adresse, unter der IM „Beier“ wohnt: Die Pfingstkirche in Berlin Friedrichshain. Dort hat Hans Reder von 1958 bis 1977 gelebt und gearbeitet. In dem Formular steht geschrieben, dass „der Kandidat als Vorsitzender der Pfarrerbruderschaft die Möglichkeit hat, über interne Besprechungen zu berichten“ und die Perspektive, in eine leitende Stellung der Evangelischen Kirche aufzurücken. Seit Juni 1970 wird Hans Reder also von der Berliner Zentrale als IM „Beier“ geführt. Auf der Karteikarte steht zunächst IMV, das heißt, er sollte für eine Mitarbeit gewonnen werden, das ist durchgestrichen und wurde durch IMS ersetzt, eine Stasi-Bezeichnung für Personen die in sicherheitsrelevanten Einrichtungen beschäftigt waren und ohne besonderen Anlass über das Verhalten von Personen berichten sollten.



Nun sagt eine IM-Registrierung für sich genommen noch nichts über die Qualität und Intensität der Zusammenarbeit aus. Und in dem Wenigen, was über Reder niedergeschrieben und nicht gelöscht ist, haben sich auch völlig unverständliche Fehler eingeschlichen. Reder selbst wehrt sich vehement gegen den Vorwurf, Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen zu sein und kann sich nicht erklären, warum eine Akte über ihn angelegt wurde. Wenn die Akten vernichtet wurden oder nicht auffindbar sind, wird es noch schwieriger, die Wahrheit zu erkennen.

DIE KIRCHENBESETZER

MARGIT WACHE
Die 2016 68-Jährige, damals zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Pfarrer Reder kam ihr an diesem Sonntag nervös, impulsiv und insgesamt ungehalten vor. Auch ihr Schwiegersohn, der sie an diesem Morgen zur Kirche gefahren hat, wurde als „Mittäter“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach vier Monaten wurde sie von der Bundesrepublik frei gekauft. Die Rentnerin lebt heute mit ihrem Mann in Solingen. In ihrer Stasi-Akte steht Wichtiges und Nichtiges, der Name Reder oder IM Beier taucht aber nicht auf.

DR. VOLKER BRÜHEIM
Der 2016 59-jährige Chirurg aus Dortmund ist von Reders Stasi-Verflechtung überzeugt, er wurde zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und saß bis September 1989 in Chemnitz im Gefängnis, bevor er schließlich freigekauft wird.



Die Gerichtsverhandlung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden, nur mit zwei kirchlichen Beobachtern, bei denen sich später herausstellte, dass es Mitarbeiter des MfS waren. Reder sagt im Prozess nicht aus. In einem Aktenvermerk des MfS steht, dass man von seiner Befragung vor Gericht Abstand nehmen solle, um eine weitere „Verleumdungskampagne“ gegen ihn zu verhindern. Dem Arzt war Reder schon vor dem 4. Dezember 1988 bekannt und negativ aufgefallen. Er wusste, dass es bei einer Kirchenbesetzung mit Reder Probleme geben würde. Reder habe die Körperverletzung vorgeschoben, denn laut eines internen Kirchenschreibens durfte bei einer Kirchenbesetzung nur bei einem tätlichen Angriff die Polizei eingeschaltet werden. Der Name Reder taucht in seiner Stasi-Akte nicht auf, was ihn aber nicht verwundert, denn sie sei „gesäubert“ worden. Brüheim hat nach der Wende 1990 Anzeige gegen Reder erstattet, das Verfahren sei eingestellt, weil der Staatsanwalt die Einlassung von Reder als glaubhaft einstufte. 2008, als er hört, dass Reder als IM tätig gewesen sein soll, zeigte er ihn erneut an. Inzwischen sei die Tat aber verjährt gewesen.

DR. RENATE BIEDERMANN
Vor der Kirchenbesetzung hat sie drei Jahre lang immer wieder erfolglos versucht, Ausreiseanträge in die BRD zu stellen. Sie war damals Chefärztin in Weimar und hatte ihre Arbeitsstelle verloren. In der Aktion sah sie demnach den letzten Ausweg, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und in den Westen ausreisen zu können.
Hans Reder sei an dem Adventssonntag aggressiv und unbeherrscht gewesen und sei in der Saktristei wie ein jähzorniger Satan herumgesprungen.

DR. AXEL KIRCHNER

führt eine Zahnarztpraxis in Köln. Keine Stellungnahme.

FRANK EICHLER
Keine Stellungnahme.

(Quelle: http://thewidesight.de/?p=238)





Kontext:
Stendhal-Syndrom?
Christen-Basching

Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Tabtbestand

Der Kläger begehrt von den Beklagten, ihr alltägliches Christen-Bashing zu unterlassen.
Der Kläger ist Chefredaktuer und Journalist zum Thema Religion, Kirche und Katholizismus. Immer, wenn er auf Großstadt-Küchenpartys unterwegs ist, staunen die Atheisten bei seiner Behauptung, an Gott zu glauben. Dann folgt eine Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn von Religion, bei der der Kläger sich nicht mehr in einer Partygemeinschaft, sondern einer Menge selbst ernannter Aufklärer und Vernunftverteidiger gegenüber sieht, die in ihm das personifizierte Mittelalter erkennen.
Auch in seiner beruflichen Arbeit trifft er ständig auf nervende Atheisten, die ihn in Blogs oder auf Facebook beleidigen.

Die Beklagten sind überzeugte Atheisten.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Pressebeitrag des Klägers in ZEIT 2018 Nr. 47 S. 61f verwiesen.

Der Kläger trägt vor:
Auch früher hätten Atheisten mit ihrem Zwang, alles rational erklären zu müssen, genervt. Heute würden sich mehr Volksvertreter der CDU als schwul denn als gläubig outen.
Die beklagten Atheisten seien träge und ignorant. Sie interessierten sich nicht für philosphische Theorien und Beweise und mimten den Ratio-Übermenschen.
Selbst der kalte Atheist Houllebecq halte – nach dem Tod seines Lieblingshundes – einen Schöpfer und die kosmologische Ordnung auf einmal für möglich.
Das Göttliche breche auch in antrainierte Rationaliät ein, wie das Zitat eines Astronomen dartue: Die Erforschung des Universums hat mir gezeigt, dass die Existienz von Materie ein Wunder ist, das sich nur übernatürlich erklären lässt. (Allan Sandage).
Übersinnliches lasse sich nicht zweifelsfrei kartieren, kategorisieren, definieren.

Der Kläger beantragt:

         Die Beklagten werden verurteilt, Christen-Bashing zu unterlassen.

Die Beklagten beantragen:

         Klageabweisung.

Sie bestreiten einen Rechtsanspruch des Klägers.
Sie sind der Meinung, dass man die Welt nicht infragestellen könne, sondern sie nehmen müsse, wie sie sich darbietet. Sie sei nur rational zu erklären, und alle „Gottesbeweise“ seien nicht stichhaltig.


Urteilsgründe
Die Klage ist unbegründet.
  1. Dass dem Kläger ein Unterlassungsangspruch gegen mögliche strafrechtlich relevanten Beleidigungen zusteht, ist selbstverständlich. Er hat aber insoweit keinen ausreichenden, schlüssigen oder substantiierten Sachvortrg gemacht.
  2. Ein Anspruch des Klägers auf Unterlassung des verbalen Christen-Bashings (Mobbing, Ausgrenzung des Christen) ist nicht ersichtlich. Er setzt voraus, dass die Beklagten rechtswidrige Handlungen als Störer begehen.
    Die Beklagten haben keine unzulässigen Äußerungen gemacht, sei es durch Tatsachenbehauptungen oder Meinungsäußerungen, die den Kläger in seinem Persönlichkeitsrecht betreffen.
    a) Sein Vortrag, ein Beklagter habe geäußert, „Religion lasse sich heilen“ und „Katholiszismus sei alimentierter Kindesmissbrauch“ und ihn damit als krank eingestuft, ist keine unzulässige Behauptung. Für das Gericht stellt die Äußerung lediglich eine nicht ernst gemeinte Überspitzung dar, die lediglich den Glauben des Klägers als vollkommen abwegig darstellen will, aber keine medizinische Diagnose ist. Wenn der Kläger den allgemein bekannten, umfangreichen strafrechtlich relevanten Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche aus Glaubensgründen verteidigt haben sollte, macht dies seine nicht nachvollziebare Ansicht noch deutlicher.
    b) Seinen Vortrag, die Beklagten würden ihm befehlen, nicht zu glauben, oder sie würden das verächtlich machen, was ihm heilig sei, hat der Kläger ebenfalls nicht näher substantiiert. (Der Kläger legt dar, dass viele katholische Würdenträger vielmehr selbst nicht an die unbefleckte Empfängnis glaubten). Die Beklagten müssten sein „bisschen Glauben“ aushalten.
    c) Auch dazu, was mit dem „Scannen“ von Kreuz und Rosenkranz durch die Beklagten gemeint ist, fehlen nähere Ausführungen.
    d) Der Kläger hat auch nicht dargelegt und näher begründet, warum eine Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn von Religion unerträgich sei.

    Die Klage war daher abzuweisen.


rechts Raoul Löbbert