Angst ist etwas für westliche Frauen
in ihren Küchen


Abdulla Öcalan Murray Bookchin


Rojava
"Apo" und Traumtänzer: Utopia in Rojava
Libertinärer Munizipalismus

Von der Welt und ihrer Presse nicht wahrgenommen:
Die Geburt eines neuen Staates! Und welch einer Republik!
UNO, USA und Deutschland wollen Rojavaya Kurdistanê nicht anerkennen - 1991: Slowenien, Kroatien, Bosnien lassen grüßen ...
Kriegsgebiet Syrien, Region Rojava. Nirgendwo wird die Perversion der Beteiligten deutlicher als hier.
Assad-Sekundarschule im Erdgeschoss, Kurdische Akademie im Obersgeschoss ...
Es regiert der PKK-Ableger PYD, die USA unterstützen die kurdischen Milizen im Kampf gegen den IS, die Türken stellen ihr Flugfeld Incirlik amerikansichen Bombern zur Verfügung. Die Türkei selbst attackiert die Kurden aufs massivste. Die autonome Provinz in Nordirak - Kurden! - unter der Herrschaft von Stammesführer Masud Barzani mit seiner Peschmerga-Truppe boykottiert ebenfalls Rojava, weil der Clan mit seiner konservativen Ausrichtung kein Interesse an einem demokratischen Modell in seiner Nachbarschaft hat.
In Rojava sind die Gesetze des benachbarten IS-Kalifats auf den Kopf gestellt. Erdogan (der mehr Angriffe auf die Kurden als auf den IS fliegen lässt) wiederum: "Wir werden nicht zulassen, dass die Kurden in Nordsyrien einen Staat gründen. Wir werden dagegen kämpfen, koste es, was es wolle."

Sie kennen Rojava (gesprochen "Róschaawa") nicht?
Wiki:
... auf Deutsch 'Westkurdistan'. Bezeichnung für die de facto autonomen kurdischen Siedlungsgebiete im nördlichen Syrien. Im März 2016 ruft eine Versammlung von kurdischen, assyrischen, arabischen und turkmenischen Delegierten die Autonome Region Nordsyrien-Rojava aus, bestehend aus den drei Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê im Norden entlang der syrisch-türkischen Grenze, getrennt durch überwiegend arabisch besiedelte Gebiete. Der östliche Kanton Cizîrê grenzt direkt an die Autonome Region Kurdistan im Irak.



Hier leben etwa 4,6 Millionen Menschen, mehrheitlich Kurden.
Ende 2013 gibt die syrische Regierung diese Gebiete auf. Lokale kurdische Kräfte übernehmen die Kontrolle und begegnen den durch die Kriegswirren entstandenen Missständen in Verwaltung und Versorgung der Bevölkerung.
Die Verwaltung spiegelt die multiethnische und -religiöse Situation wider, sie besteht jeweils aus einem kurdischen, arabischen und christlich-assyrischen Minister pro Ressort. Ziel ist Aufbau eines demokratischen Systems als selbstverwalteter Konföderalismus, in der Verwaltung wird eine Frauenquote von 40 % angepeilt. Die Behörden sind an die Menschenrechte gebunden, es herrscht Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religionsfreiheit und Verbot der Todesstrafe.

2014 erhebt Human Rights Watch (HRW) schwere Vorwürfe gegen Rojava: Willkürliche Festnahmen von politischen Gegnern, Misshandlung von Häftlingen, ungeklärte Entführungs- und Mordfälle, sowie Einsatz von Kindersoldaten als Kriegsverbrechen, 2015 prangert Amnesty International Vertreibungen und absichtliche Zerstörungen von Häusern und ganzen Dörfern durch Rojava-Milizen an.


1. Kurden



In der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien leben insgesamt etwa 30 Millionen Kurden, wo sie jeweils eine bedeutende autochthone ethnische Volksgruppe bilden; in den farbig hervorgehobenen Gebieten wird kurdisch gesprochen.
Im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts entsteht bei einer Verwaltungsreform für kurze Zeit eine Provinz mit dem Namen Kurdistan.
Seitdem kämpfen die Kurden für einen eigenen Staat: Das heutige Rojava, "Land des Sonnenuntergangs/Westen", ein Gebiet etwa von der Größe Schleswig-Holsteins, könnte die Keimzelle dafür sein. Obwohl ihm noch jede internationale Anerkennung fehlt, sehen westliche Beobachter in Rojava den Ort, wo die Saat des Arabischen Frühlings als Utopie aufgehen könnte. Raymond Jolliffe, britisches Oberhausmitglied, spricht von einem "einzigartigen Experiment, das hoffentlich glücken wird". Der Anthropologe David Graeber nennt die Region "einen der wenigen hellen Flecken (dafür aber besonders hell), die aus der Tragödie der syrischen Revolution hervorgegangen sind".



Das erste Territorium einer kurdischen Regionalregierung liegt im Irak, Rojava grenzt daran an.
Und wie immer haben imperialistische europäische Großmächte die Ursachen für die heutigen Kalamitäten gesetzt:
1916 legen Großbritannien und Frankreich mit dem Sykes-Picot-Abkommen ihre Einflusssphären in Nahost fest und machen Millionen von Kurden, die vorher ein als Kurdistan bekanntes Gebiet ziemlich unbehelligt bewohnten, plötzlich zu Untertanen der neuen Staaten Irak, Syrien und Türkei. In der Türkei, wo fast ein Fünftel der Bevölkerung Kurden sind, versucht die Regierung deren Forderungen nach Eigenständigkeit einfach dadurch zu erledigen, dass sie die Existenz eines kurdischen Volkes schlicht leugnet. Per Gesetz tilgen die türkischen Offiziellen alle Spuren kurdischer Identität aus den Geschichtsbüchern, untersagen den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit. Syrien, wo etwa 10% der Bevölkerung Kurden sind, betreibt eine ähnliche Politik, voll im Geist eines Polizeichefs namens Mohammed Talib Hilal, der 1963 die 'kurdische Frage' in seinem Land als 'bösartiges Geschwür' bezeichnet.

2. Murray Bookchin



(1921 - 2006), Sohn jüdisch-russischer Immigranten, US-amerikanischer Sozialist, Schriftsteller, Professor, Begründer des ökologischen Denkens und Öko-Anarchismus, Direktor und Mitbegründer des Institute for Social Ecology in Plainfield/Vermont. Aus seiner kommunistischen Jugendgruppe tritt er, desillusioniert durch den autoritären Charakter der Bewegung, nach einigen Jahren wieder aus.
Der Theoretiker fühlt, dass immer Hierarchien und Machtstreben der Beherrschung der Natur durch den Menschen zugrundeliegen. In deren Ablehnung entwickelt Bookchin seine anarchistische Ethik und Philosophie; er schätzt deutsche Philosophen von Kant bis Adorno. Seine Soziale Ökologie baut Bookchin auf Dezentralisierung, dualer Gegenmacht, Selbstverwaltung und Selbstorganisation auf, Klassenkampf alter Prägung lehnt er ab, setzt stattdessen auf Stadtteilarbeit, Bürgerversammlungen und direkte Demokratie. Vorbild sind die Polis der griechischen Städte im Altertum, deren Bürgerversammlungen und gleichberechtigte Entscheidungsmöglichkeit der männlichen Vollbürger (auch wenn dem Philosophen Ausschluß der Frauen und Sklavenarbeit als Basis der Polis bewusst sind).
Höhepunkt der Organisationsversuche für einen pragmatischen Anarchismus sind Kongresse in Lissabon 1998 und Vermont 1999.



In marxistischen Kreisen ist Bookchin durch seine Kritik an der reinen marxistischen Lehre bekannt, er ist radikaler Antikapitalist und Befürworter der Dezentralisierung. Seine Ideen und Schriften haben großen Einfluss auf die globalisierungskritische Bewegung und Ökologiebewegung


3. Abdullah Öcalan



Im türkischen Fernsehen wird ein Häftling vorgeführt, verurteilt wegen Mordes und Terrorismus zu lebenslanger Einzelhaft auf einer Insel, bewacht von 1.000 Soldaten.
Er wirkt schwach und verwirrt, wie ein alter Mann, den man gerade aus seinem Nickerchen riss. Und er verkündet das Undenkbare:
Abdullah Öcalan schwört dem Vorhaben ab, einen unabhängigen kurdischen Staat zu gründen.



Abdullah Öcalan, genannt "Apo" (Onkel) oder "Serok" (Führer), Sohn einer Türkin und eines Kurden, ist 1949 in der Türkei geboren. Bei seinen kurdischen Anhängern genießt er kultartige Verehrung.

Öcalan ist Vorsitzender der PKK (kurdisch: Partiya Karkerên Kurdistanê = Arbeiterpartei Kurdistans) bis 2002. 1999 verurteilt ihn die türkische Justiz wegen Hochverrats, Bildung einer terroristischen Vereinigung, Sprengstoffanschlägen, Raub und Mord zum Tode, ändert aber 2002 das Urteil auf lebenslänglich ab.
Öcalan studiert Politikwissenschaft, sympathisiert mit der THKP-C, einer kommunistischen Untergrundorganisation, wird wegen Teilnahme an einer Protestaktion verhaftet und im Gefängnis Zeuge der Hinrichtungen von Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan, dem Führungskader der THKO.
1978 Gründung der PKK, Öcalan Vorsitzender. Ziel: kommunistische Revolution und Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates mit den Mitteln des Guerillakriegs, seit 1979 von Syrien aus.



1980 trennt sich Öcalan von seiner Frau Yildirim - einige von Öcalans Anhängern wollten sie ermorden. 1984 lässt er sie festsetzen, die PKK verhängt ein Todesurteil, Öcalan verhindert die Ausführung. Später wird sie begnadigt.
Öcalan beherrscht die PKK autoritär, geht brutal gegen Dissidenten vor und lässt vermeintliche Rivalen oder Verräter hinrichten. 1984, nach dem Mord an einem Dissidenten in Rüsselsheim, ergeht 1990 von Deutschland internationaler Haftbefehl. 1998 in Italien festgenommen, kommt er frei, nachdem die Bundesregierung wegen befürchteter Proteste seitens der kurdischen Bevölkerung auf ein Auslieferungsgesuch verzichtet.
1999 Festnahme in Kenia.
In einer organisierten Aktion besetzen Kurden in vielen europäischen Ländern vornehmlich griechische, aber auch kenianische und nigerianische diplomatische Vertretungen.
Verurteilung und Inhaftierung auf Imrali im Marmarameer. 2005 bezeichnet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Verfahren gegen Öcalan als unfair, seine Anwälte sprechen von Vergiftung und physischer Folter ihres Mandanten.



Obwohl 1500 Kilometer entfernt in Haft, ist Abdullah Öcalan in Rojava allgegenwärtig. Sein Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und dem gewaltigen Schnurrbart begegnet einem überall. Seine PKKler waren früher unbeirrte Maoisten, der Vater und Vorgänger des jetzigen Herrschers in Syrien, Hafiz al-Assad, bot ihm Zuflucht in einer syrischen Villa. Von dort aus instruierte Öcalan seine Kommandanten der PKK per Bote, Brief oder Telefon. 1998 aber warf ihn Assad senior auf Druck der Türkei wieder hinaus und CIA half, Öcalan in Kenia festzunehmen, weil die PKK auch in den USA als terroristische Vereinigung gilt.

In der Haft beginnt die Metamorphose: Aus der "stalinistischen Raupe wird der libertäre Schmetterling", er findet Inspiration bei Michel Foucault oder Benedict Anderson, ein Unterstützer schickt ihm ein Buch von Murray Bookchin, und da will Öcalan alles lesen, was dieser Philosoph veröffentlichte. Öcalan arbeitet an einem Paradigmenwechsel, angelehnt an das, was er bei Bookchin gelernt.
Bookchin, schnauzbärtig, 80-jährig - im Aussehen könnte er ein Bruder Öcalans sein - ahnt nicht, dass dieser seine Schriften liest. Er hält sich überhaupt für so gut wie vergessen. Aber Öcalan vertieft sich in Bookchins Opus Magnum



das zugleich ein Ritt durch die Weltgeschichte und eine Neuauslegung von Karl Marx' „Kapital" ist. Unsere Ursünde, argumentiert Bookchin, sei nicht der Kapitalismus, sondern die hierarchischen Beziehungen. Die Zerstörung der Natur sei die Folge von Herrschaftsverhältnissen, und nur wenn wir alle Hierarchien abschafften - zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Weißen und Schwarzen, Armen und Reichen -, könnten wir die globale Umweltkrise bewältigen. An anderer Stelle, in seinem Aufsatz "Urbanization Without Cities", entwirft Bookchin den "libertären Munizipalismus" als Alternative zum Nationalstaat.
Sowohl marxistische als auch liberale Regierungsmodelle zeigten, dass der Staat ein unweigerlich von korrumpierendem Einfluss sei, eine Antithese zur menschlichen Freiheit. Dem setzt Bookchin ein „hellenisches Modell" der Demokratie entgegen: ein Regieren im direkten Austausch miteinander, wie es im alten Griechenland praktiziert worden sei. Nur indem wir uns auf dieses System zurückbesännen, könnten wir das Unrecht aus der Welt schaffen und vermeiden, dass auch linke Bewegungen am Ende die Hierarchien reproduzieren, die sie überwinden wollten.
Demokratie ohne Staatsmacht?
Das mag traumtänzerisch klingen, doch Öcalan sieht in diesem Denken den Weg zu einer neuen Art von Revolution. Vielleicht brauchte die PKK gar keine eigene Staatsmacht. Vielleicht könnte sie den Kurden zu ihrem Recht verhelfen, indem sie innerhalb bestehender Länder ihre eigenen Gemeinschaften schafft und nur dann Gewalt anwendet, wenn sie selbst angegriffen wirde. Im April 2004 lässt Öcalan seine Anwälte eine E-Mail an Bookchin schicken.



Bookchin, der Öcalans Verhaftung im Fernsehen verfolgte und ihn dabei als "noch so einen Dritte-Welt-Leninisten" abtat, stellt fest, dass der Kurdenführer sich als seinen Schüler betrachtet, dass er einen guten Einblick in sein Werk hatte und darauf brannte, diese Ideen für nah-östliche Gesellschaften anwendbar zu machen. Mit seiner Antwort lässt sich Bookchin einige Wochen Zeit.
Sie sollten wissen, dass ich ein ziemlich alter Mann bin, der wegen Arthrose und Herzproblemen kaum noch laufen kann. Viel bliebe zu erforschen, doch mein Gesundheitszustand erlaubt mir das nicht mehr. Wenn es Ihnen beliebt, mir weiterhin zu schreiben, bitte ich Sie um Geduld mit einem alten Radikalen.

2005 veröffentlicht Öcalan seine "Erklärung des demokratischen Konföderalismus in Kurdistan", ein Aufruf an die PKK, Bookchins Ideen umzusetzen. Alle Kämpfer sollten "Die Ökologie der Freiheit" lesen. Sie sollten nicht mehr die Regierung angreifen, sondern kommunale Räte gründen, als "Demokratie ohne den Staat". Diese Räte würden eine Konföderation bilden, die sich über die Kurdengebiete Syriens, des Irak, der Türkei und des Iran erstreckte, geeint durch gemeinsame Werte: Umweltschutz, religiöse Toleranz, politischer und kultureller Pluralismus - und Selbstverteidigung.



Frauen, darauf besteht Öcalan, müssten in allen Bereichen der Gesellschaft gleichberechtigt sein. Einige PKK-Kommandeure zeigten sich anfangs widerwillig, dem „Apo" in seinem Sinneswandel zu folgen, doch vor allem die Frauen in der Führungsriege drängen darauf, das neue Leitbild zu übernehmen. In Syrien, im Irak und in der Türkei werden die ersten Räte gebildet.
2006, nach Bookchins Tod, schickt die PKK ein Würdigungsschreiben über den "größten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts" an Janet Biehl, dessen Lebensgefährtin:
Bookchin ist nicht tot. In unserem Kampf lebt er weiter.



4. Reportage

Ob das alles nur Propaganda ist? Das zu erforschen reist er,


Wez Enzinna

nach Jojava. Hier Auszüge aus seiner Reportage:

Bei der Kleinstadt Faysh Khabur im äußersten Nordwesten des Irak liegt einer der halbwegs sicheren Grenzübergänge nach Syrien. Ein Beamter der kurdischen Regionalregierung begleitet uns zu einer Pontonbrücke, die auf den dunkelbraunen Fluten des Tigris wippt. Ende 2014 überquerten 30.000 Flüchtlinge diese Brücke in der Gegenrichtung, halbtot und vom Entsetzen gezeichnet. Um einem IS-Massaker zu entrinnen, waren sie 30 Stunden am Stück gelaufen.



Über Facebook stieß ich auf die Mesopotamische Akademie für Sozialwissenschaften, die neu gegründete Universität in Rojavas De-facto-Hauptstadt Qamischli.



Schon dass es sie gibt, ist eine kleine Revolution. Jahrzehntelang hat das Assad-Regime es nur wenigen Kurden überhaupt erlaubt zu studieren. Kaum 20 Kilometer entfernt gelten kurdische Mädchen dem IS als verwestlichte Häretikerinnen, werden gefoltert und ermordet. In Rojava werden sie zu Akademikerinnen ausgebildet.

Unterricht in Redefreiheit.

Als ich die Universität um weitere Informationen bat, antwortete mir Yasin Durnan, ein kurdischer Doktorand, der in der Türkei lebt. Er hat in Rojava mehrere Kurse geleitet, und als er erfuhr, dass ich ein Autor und Dozent aus New York war, begannen wir, ein Seminar zu planen. Den jungen Leuten in Rojava, sagte Duman, sei das Konzept der Redefreiheit noch neu: "Und ein freies Volk braucht freie Rede." Es sollte ein Kulturaustausch werden. Ich würde für eine Woche nach Rojava reisen, die Studenten würden mir zeigen, wie sie dort leben, und ich würde einen Crashkurs Journalismus anbieten - Reportage, Interview, Techniken der Kriegsbericht-erstattung.
Drei Monate und etliche logistische Hürden später bin ich im Begriff, mir das Experiment aus der Nähe anzusehen. Der Beamte auf der irakischen Seite führt meinen Dolmetscher Mohammed Ismael Rasul und mich zu einem morschen Schiff. Offiziell betreten wir nun syrisches Staatsgebiet. Doch am anderen Flussufer, auf einem geziegelten Wachturm mit schwer bewaffneter Besatzung, weht eine Trikolore in Rot, Grün und Gelb: die Flagge Rojavas.



Die Kriegswirren haben Rojava erst möglich, zugleich aber seine Überlebenschancen ungewiss gemacht. Tonangebend ist in der Region ein PKK-Ableger namens Partiya Yekitiya Demokrat (PYD). Dieser Partei unterstehen die Volksverteidigungs-einheiten (YPG) und die Kampfverbände (YPJ); beide Milizen werden von den USA im Kampf gegen den IS unterstützt.
Ein Milizionär mit Kalaschnikow fährt uns eine zerfurchte Straße entlang, gesäumt von ausgedörrten braunen Hügeln und Bohrtürmen. 15.000 Barrel Erdöl werden in Rojava täglich gefördert und teils vor Ort, teils aber auch an das Assad-Regime verkauft, um den Krieg gegen den IS zu finanzieren. Alle 20 Kilometer werden wir von Polizisten und Polizistinnen in grünen Tarnanzügen angehalten und kontrolliert.



Nach vier Stunden erreichen wir die Stadt Qamischli, in deren Großraum 400.000 Menschen leben. Auch hier erblicken wir kaum junge Leute, außer Kriegsinvaliden, die sich auf Krücken über die Gehwege schleppen. In einem Außenbezirk, wo die Straßen nicht mehr gepflastert sind, winkt ein bewaffneter Wachmann hinter einem zwei Meter hohen Sandwall hervor, errichtet als Barrikade vor der Mesopotamischen Akademie für Sozialwissenschaften. Hinter dem Wall umschließt eine zweistöckige Betonfestung einen Hof mit einem schlaffen Volleyballnetz.
Ein Dozent der Akademie, der 23-jährige Reschan Schaker, führt uns hinein und erläutert einen der vielen Widersprüche des Krieges: Im Erdgeschoss betreibt das Assad-Regime eine Sekundarschule, die Akademie belegt das Obergeschoss. Manchmal treten die Schüler gegen die Studenten im Volleyball an. In der Innenstadt habe ich eine Kreuzung gesehen, an der Assad-Leute - bewaffnete Männer in Muskelshirts und mit Sonnenbrillen - noch mehrere Gebäude kontrollieren. Vor wenigen Wochen erst haben Straßenkämpfe zwischen ihnen und den Milizen der PYD wieder einmal die Waffenruhe unterbrochen.



Meine Unterkunft für die Woche ist ein karger gefliester Raum mit einer Matte auf dem Fußboden. "Für uns ist Studieren das Gleiche wie Kämpfen", sagt Schaker. "Viel Komfort können Sie hier nicht erwarten." Noch am selben Abend betrete ich den Seminarraum. 23 junge Männer und Frauen stehen hinter ihren schwarzen Plastikpulten stramm wie Soldaten. Ein Plakat an der Wand verkündet: "Eine Gesellschaft, die nicht nach Höherem strebt, wird verfaulen." Falls das Experiment gelingt, werden diese 18- bis 29-Jährigen zur intellektuellen Führungsschicht eines künftigen Rojavas gehören. Niemand starrt hier auf ein Smartphone oder aus dem Fenster. Sie sind aufmerksam wie Stenografen.



Ich beginne mit einer Übung, die das Eis brechen soll. Gespräche, sage ich, sind die Grundbausteine des Journalismus. Darum sollen sie einander jeweils zu zweit befragen - über das Wichtigste, was ihnen im letzten Jahr passiert ist. Sie wundern sich. Das syrische Ausbildungssystem setzt auf Frontalunterricht, und Öcalan selbst war berüchtigt für Vorträge, die acht Stunden ohne Pause dauern konnten. Als die Studierenden begriffen haben, dass ich sie dazu bringen will, miteinander zu reden, sind sie kaum mehr zu bremsen.
Die 22-jährige Nariman Hesso, die einen alten Uniformmantel trägt, stellt als Erste ihre Nebensitzerin vor: Fidan Ahmed, 20, die schwarzen Locken mit einem Haargummi gebändigt. Als der Krieg begann, ging sie in die zehnte Klasse. "Ihr wichtigstes Erlebnis im letzten Jahr: Vorher war sie schüchtern und hatte kaum Freunde, aber hier in der Akademie hat sie Freundschaften geschlossen und ihren Platz gefunden."
"Für Kaua war das Wichtigste im letzten Jahr, dass er die Revolution in Syrien und den Aufstand gegen Assad erlebt hat", erklärt Mahmud Morad, 21, über seinen Kommilitonen Kaua Omer, 27. "Und nun studiert er die Philosophie Abdullah Öcalans."



"Für Mohammed war am wichtigsten, dass er sich der Revolution in Rojava angeschlossen hat", referiert Walid Hadsch Ali über den 18-jährigen Mohammed Dle und legt dabei die Hand aufs Herz: "Hier, sagt Mohammed, wird er ein neuer Mensch."
Nach dem Kurs nehmen sie mich mit in die Cafeteria. Es ist Ramadan, aber ich habe den ganzen Tag Leute gesehen, die aßen. Nun brauen sie Tee und bedienen sich an einem Teller mit Weichkäse. Auch wenn 90 Prozent der Kurden Sunniten sind, gelten sie dem IS als kafir, Ungläubige. Im Mai 2014 kidnappte der 186 kurdische Studenten, die nach einer Prüfung in Aleppo auf dem Rückweg nach Rojava waren, zwang sie in eine dschihadistische Koranschule und drohte ihnen bei Fluchtversuchen Enthauptung an.



Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Sami Said Mirsa. Ich habe kaum geschlafen, das Dröhnen der Kampfjets hielt mich wach, dazu immer wieder ein dumpfes Krachen, vielleicht Bombeneinschläge in der Ferne - oder doch nur Straßenlärm. Einmal stieg ich auf die Dachterrasse und blickte zum Horizont. Eine sandige Schlangenlinie, durchsetzt mit ein paar Steinhütten. Ein Ausblick von eigenartiger Schönheit, wie mit einem einzigen braunen Pinselstrich hingemalt. Irgendwo da draußen verlief die Front.
Mirsa, 29 Jahre alt, hat traurige, schlaftrunkene Augen und dicke Brillengläser. Den nächtlichen Lärm hat er nicht bemerkt, "daran bin ich gewöhnt", sagt er. Anders als seine Kommilitonen ist Mirsa nicht in Syrien aufgewachsen, sondern in einem Dorf im Westirak. Er gehört der Minderheit der Jesiden an, die ihre eigene monotheistische Religion praktiziert. Der Name Abdullah Öcalan hat ihm bis vor kurzem nichts gesagt.



Im August 2014 überfiel der IS sein Dorf nahe der Stadt Sindschar und ermordete 5.000 Bewohner. Mirsa und seine Familie saßen vier Tage lang auf einem Berg fest und warteten auf den Tod. Doch ein Frauenbataillon, Soldatinnen der YPJ kämpfte einen Fluchtkorridor frei. So konnte Mirsa, stark dehydriert und kurz vor dem Kollaps, entkommen.



"Seit dieser Schlacht denke ich anders über Frauen", sagt er. "Kämpferinnen waren es, die uns gerettet haben. Die jesidische Gesellschaft ist eher, sagen wir, traditionell. Nie zuvor hatte ich Frauen als Anführerinnen, als Heldinnen betrachtet." In einem Flüchtlingslager erfuhr Mirsa von der Akademie, und hier hat er seine Lektion in Feminismus vertieft. Er und die anderen Studenten nahmen



durch, Öcalans großen Text zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Darin argumentiert der PKK-Mitgründer, unfähige Regierungen, Korruption und Schwäche der demokratischen Institutionen im Nahen Osten ließen sich ohne volle Gleichberechtigung der Frauen nicht überwinden. "Von ihm habe ich die Wahrheit gelernt", sagt Mirsa.

Die Verfassung Rojavas, seit Januar 2014 in Kraft, garantiert Gleichberechtigung und Religionsfreiheit für alle Bewohner. Die Regierung nahm das Massaker von Sindschar zum Anlass zu zeigen, dass ihnen der Schutz dieser Rechte todernst war. Dennoch frage ich mich, ob die Rettung der Jesiden nicht auch strategische Gründe hatte - um sie für die Verteidigung Rojavas zu gewinnen. „Warum, meinen Sie, haben die YPJ Sie befreit?", wende ich mich an Mirsa.
"Vielleicht weiß ich es, vielleicht auch nicht. Aber sie waren es, die geholfen haben. Nicht Amerika. Und nicht die Peschmerga." Nun wolle er sein ganzes Leben den Lehren Öcalans widmen: "Bevor ich an die Akademie kam, war ich ein Nichts."

Wenn nun eine Version von Bookchins Traum Wirklichkeit werden könnte, dann da, wo er selbst es nie vermutet hätte. "Rojava existiert jenseits des Nationalstaats", sagt


Hediye Yusuf, Ko-Gouverneurin des Kantons,

zu dem Qamischli gehört: "Es ist ein Ort, wo alle Menschen, alle Minderheiten und alle Geschlechter gleichgestellt sind." Ihr Büro hat Yusuf, die viele Jahre in Assads Gefängnissen saß, im halb zerstörten ehemaligen Hauptquartier der Syrischen Ölgesellschaft. Sie erklärt mir das Prinzip der „Ko-Regierung": Jedes politische Amt ist in Rojava doppelt besetzt, mit einer Frau und einem Mann, die dieselben Befugnisse haben. Yusufs Partner auf dem Gouverneursposten ist der arabische Stammeschef


Scheich Humaidi Daham al Hadi.

Zu Beginn des Krieges verbündete sich Hadi, der über eine Truppe von 3.000 Soldaten verfügt, mit dem syrischen Al-Qaida-Ableger. Doch seit er der Koalitionsregierung der PYD angehört, hat er sich Öcalans Ideologie verschrieben und seine Truppe in die YPG überführt. "Hadi ist ganz sicher kein Feminist", sagt Yusuf, "aber er unterstützt uns, weil wir eine neue, funktionierende Gesellschaft bieten, die alle Menschen achtet anders als bei Assad, beim IS oder bei Erdogan." Ich will auch Hadi treffen, doch er erklärt meinem Dolmetscher am Telefon, es sei zu gefährlich. In einem Interview von 2014 witzelte er über seine neue Rolle als Ko-Gouverneur: „Ich habe nicht darum gebeten, die Macht mit einer Frau zu teilen. Sie haben mich überredet."

In einem stickigen Innenstadtgebäude sind 46 Mitglieder der Kommune Märtyrer Ramsi versammelt, um über die Sicherheitslage zu beraten. 97 solcher Nachbarschaftskommunen gibt es in Qamischli, Hunderte weitere in Afrin und Kobane, den beiden anderen Kantonen von Rojava. In diesen Gemeinschaften nimmt Bookchins Vision des „libertären Munizipalismus" Gestalt an. Die 46 Menschen im Raum sitzen auf Plastikstühlen unter einem Öcalan-Poster und fächeln sich mit Pappstücken Luft zu.



"Wir hatten mehrere Beinahe-Zusammenstöße mit IS-Leuten", berichtet eine Frau: Die Dschihadisten gäben sich als Flüchtlinge aus und planten Anschläge in der Stadt. "Was sollen wir tun?" "Eine zusätzliche Patrouille", schlägt ein Mann vor, und auf die Frage nach Freiwilligen hebt ein altes Weiblein die Hand. Es fällt schwer, sie sich mit einer Kalaschnikow auf Streife vorzustellen, doch niemand erhebt Einwände.



Tschenar Salih, eine Abgeordnete der Sechs-Parteien-Koalition, die die PYD in Rojava gebildet hat, staunt, wie schnell die Bewohner das neue System angenommen haben. Salih hatte geglaubt, die Kurden würden entweder in der Türkei oder im Irak zuerst ihre Eigenständigkeit erlangen. "Aber seit dem Arabischen Frühling ist Rojava das Zentrum der kurdischen Revolution."
Um zu verhindern, dass nun eine kurdische Mehrheit ihrerseits zu Unterdrückern wird, habe die PYD ihrer eigenen Macht strenge Grenzen gesetzt. "Als drangsalierte Minderheit in der Türkei wissen wir, wie wichtig es ist, dass in der Regierung alle gleichermaßen vertreten sind." Bei den Kantonalwahlen von 2015 traten 565 Kandidaten diverser Parteien an, darunter 237 Frauen, 39 Christen und 28 Araber.



Manche sagen aber auch, die Gleichberechtigung sei nur Propaganda. Dschian Omar, Sprecher der oppositionellen Zukunftspartei, wirft der PYD "dikatorische Willkür gegen das kurdische Volk in Syrien" vor. Wer sich gegen sie stelle, habe mit Verfolgung, Verhaftung und Mord" zu rechnen.
Amnesty International erhebt ebenfalls Vorwürfe: Die YPG-Miliz verübe Kriegsverbrechen, indem sie ganze arabische Dörfer schleife, als Strafe dafür, dass dort IS-Kämpfer Unterschlupf fanden. "Wir haben Beweise dafür, dass diese Dörfer den IS unterstützten", sagt dazu Ko-Gouverneurin Yusuf. Dass Wohnhäuser absichtlich zerstört wurden, bestreitet sie, räumt jedoch ein: "Wir sind mitten in einem Krieg und einer Revolution, und wir haben Fehler gemacht." Sie betont, die PYD habe bei den Ermittlungen von Human Rights Watch in vollem Umfang kooperiert, und die Täter seien streng bestraft worden.


Fred Abrahams,

ein leitender Mitarbeiter von Human Rights Watch, lobte die PYD ausdrücklich für ihre Reaktion auf den Bericht. Unter anderem wurde ein Gesetz erlassen, das die Aufnahme von Minderjährigen in die Streitkräfte verbietet. Allerdings habe ich bei meinem Besuch in Rojava selbst das Märtyrerbegräbnis eines 16-jährigen YPG-Kämpfers miterlebt.



Auch der Öcalan-Kult kann Sorgen bereiten. So ordnet sich selbst der PYD-Ko-Vorsitzende Salih Muslim ganz dem Visionär hinter Gittern unter: "Wir wenden Apos Philosophie und Ideologie in Syrien an, weil sie die beste Lösung für die kurdischen Probleme bietet." Ähnlich reagiert Hediye Yusuf, als ich sie frage, ob eine solche Leitfigur nicht im Widerspruch zum basisdemokratischen Gesellschaftsmodell stehe: "Ich weiß nicht, warum der Westen Öcalan immer schmähen muss. Wir lieben ihn und folgen seiner Philosophie einfach deshalb, weil sie richtig ist."



An der Akademie fällt es mir leicht zu vergessen, in welch ungewisse Zukunft die Studenten blicken. Die Gewalt ringsum scheint ihre Neugier nicht zu dämpfen, sondern zu steigern. Als wir über Krieg und Pressefreiheit diskutieren, fragen sie mich nach Murray Bookchin. In der Bibliothek der Akademie gibt es mehrere seiner Bücher, doch über sein Leben wissen die jungen Leute nichts. "Haben sie ihn weggesperrt wie Öcalan, weil sie seine Macht fürchteten?", erkundigt sich einer.



Der einzige echte Konflikt zwischen ihnen und mir entsteht, als ich sie um einen kurzen Text darüber bitte, wo sie vor vier Jahren waren und wo sie in vier Jahren gerne wären. "Wozu wollen Sie wissen, wo wir vor vier Jahren waren?", fragen sie misstrauisch. Zu spät wird mir klar, dass so etwas für sie klingen muss wie bei den Verhören, denen das Assad-Regime Kurden oft aussetzte. Rasch beteuere ich, dass ich mich wirklich für ihr Leben interessiere, doch sie schicken mich hinaus, und ich fürchte, sie werden mich davonjagen.



Am nächsten Abend sind mein Dolmetscher Rasul und ich die Einzigen im Seminarraum. "Keiner wird kommen", sagt er. Doch weit gefehlt. Sie erscheinen alle, und ehe ich ein Wort gesagt habe, spricht Malk Ali, der aussieht wie Öcalan als junger Mann: "Wir lehnen das Herr-Knecht-Verhältnis als Modell für die Lehrer-Schüler-Beziehung ab. Aber wir haben entschieden, dass wir gerne weiter bei Ihnen Unterricht haben wollen." Dann überreichen sie mir ihre Texte.



Vor vier Jahren ...

Ich bewarb mich auf eine Stelle als Ingenieur, doch als sie erfuhren, dass ich Kurde bin, lehnten sie mich ab.

Als der Krieg losging, lebte ich in Afrin. Wir Kurden galten nichts, ich hatte viel Rassismus zu erdulden.

Ich wollte Elektrotechniker werden, doch ich musste mein Studium sausen lassen, weil die Welt zusammenbrach. Ich war: eine Null, ein Witz.




Am vierten Tag meines Kurses, der fünf Tage dauern sollte, muss ich die Akademie verlassen. Das Gebäude wird als Zwischenunterkunft für ein Bataillon von ein paar Hundert neuen Rekruten gebraucht, die auf dem Weg an die Front sind. Ein Elfenbeinturm als Kaserne...

Ein paar Tage später folgen wir den Soldaten. Mich begleitet Reschan Schaker, der junge Dozent, der mir, als ich ankam, mein Zimmer zeigte. Auch er trägt nun eine Kalaschnikow. Wir fahren in das Dorf Tell Brak, 25 Kilometer südlich von Qamischli, ein Vorposten gegen den IS. Gerade erst haben die Dschihadisten versucht, es zurückzuerobern. Tell Brak ist so zerbombt, dass es eher nach Ausgrabungsstätte als nach bewohntem Ort aussieht.



Wir treffen die 24jährige YPJ-Kommandantin Deniz Derik, die eine Truppe von 23 Mädchen befehligt. Ihre Kadettinnen sind zwischen 14 und 21 Jahren alt und nennen sie "das Lächeln", weil sie selbst unter Beschuss immer die Mundwinkel oben hat. In ihrer Tarnjacke hat Derik stets eine Zyanidpille bei sich, um sich selbst zu töten, falls sie in Gefangenschaft gerät.
Als ich Derik darauf anspreche, dass YPJ-Kämpferinnen nicht heiraten dürfen, knufft sie mich in den Arm und sagt mit ihrem Lächeln: "Heißt das, du hältst um meine Hand an?" Und auf die Frage, ob sie Angst vor dem Tod habe, erwidert sie: "Warum sollte ich? Märtyrer zu sein, ist das Beste, was es gibt. Angst ist etwas für eure westlichen Frauen in ihren Küchen."
Derik führt uns in ein ausgebombtes Schulhaus. Die Räume sind voller Patronenhülsen und Lagerfeuerresten. An einer Tafel überdauert eine IS-Parole. Vor wenigen Monaten noch war dieser Raum gefüllt mit Schülern des IS - junge Syrer, wahrscheinlich nicht viel anders als Schaker oder Derik. "Allah der Allmächtige hat sich seinem Volk offenbart", steht an der Tafel.



"Jeder muss seine Wahl treffen", sagt Derik.
"Der IS hat sich für die Sklaverei entschieden. Wir uns für die Freiheit."
"Wir kämpfen für unsere Ideen", sagt Schaker.
"Ideen sind wie Menschen, sie sterben, wenn wir nicht für sie kämpfen."

Quelle (engl.)
"philosphie MAGAZIN" 3/2016

Am 9. Januar 2013 werden die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez im Kurdistan-Informationszentrum im Herzen von Paris ermordet.
Die Wahrheit wird noch gesucht



Ticker:
Rojava News

27.10.2015 FAZ

3.2.2016 Telepolis

7.3.2016 Kurdish Students Union

12.3.2016 Modern Paris Commune

17.3.2016 Welt

18.3.2016 Süddeutsche

20.3.2016 ZEIT

6.4.2016 Kurdische Nachrichten

9.4.2016 youtube

6.8.2017 Kampf um Rakka

05.05.19 Fernsehdoku

07.10.2019 US-Rückzug






Die letzten Tage von Rojava

Wohl zum letzten Mal ist der ZEIT-Reporter Wolfgang Bauer nach Syrien gereist, in die Kurdenregion im Nordosten. Seine Reportage vom 4. November 2019:

Der Bus, in dem ich der einzige Passagier bin, rumpelt über die Pontonbrücke. Ich sitze zwischen leeren Bänken. Es ist ein eigentümliches Gefühl. Ich sehe auf den schmalen Fluss, den Chabur, der die Grenze zwischen dem Nordirak und Syrien markiert. Die Brücke ächzt und knarrt. Es sind nur wenige Meter Wasser, die einen gewaltigen Unterschied ausmachen. Den Unterschied zwischen Frieden und Krieg. Zu meinen Füßen liegt eine schutzsichere Weste. Als der Fahrer die andere Flussseite erreicht, öffnet er die Tür, lässt mich aussteigen. Dann dreht er und fährt sogleich wieder über die Brücke. Seit zwölf Jahren berichte ich aus Syrien. Diese Reise ist meine wahrscheinlich letzte in dieses Land.

Dreimal ist die staatliche Ordnung im Nordosten Syrien seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 zusammengebrochen. Dreimal hat sich auf den Resten der alten eine neue Ordnung gebildet. Das Regime des Baschar al-Assad kollabierte im Nordosten Syriens im Jahr 2012; fast kampflos nahmen die Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA) die Region ein. Nur ein Jahr später musste die FSA der Herrschaft des "Islamischen Staats" weichen, der wiederum 2017 durch Unterstützung der USA von den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) niedergerungen wurde. Die Herrschaft der Kurden brach an, unter dem Regime ihrer sozialistischen Volkseinheitspartei (PYD), die mit der PKK paktierte. Jedesmal, wenn ich über diesen Fluss fuhr, reiste ich in ein völlig anderes Land.

Die meisten Journalisten sind zwei Tage zuvor aus Syrien in den Irak geflohen, zweieinhalb Wochen ist die Reise her. Nach dem angekündigten Abzug der US-Armee und dem Angriff türkischer Bodentruppen riefen die Kurden in ihrer Not das verhasste Regime zu Hilfe. Westliche Reporter und Mitarbeiter ausländischer NGOs fürchten nun ihre Verhaftung. Nahezu alle ausländischen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen haben Rojava, wie die Kurden ihre Siedlungsgebiete im Nordosten nennen, verlassen. Rojava: der Sonnenuntergang. Kurz bevor ich über die Grenze fahre, bittet der Teamleiter der Organisation Acted die irakischen Grenzer, ihn bis zum Flussufer vorzulassen. Er will erkunden, ob es am syrischen Ufer größere Ansammlungen von Flüchtlingen gibt. Es hat nur Stunden gedauert, und der Nordosten Syriens ist plötzlich wie von der Welt abgeschnitten. Meine Übersetzerin erwartet mich auf einer Bank an der kurdisch-syrischen Grenzstation. Sie hat den Kopf in ihren Händen verborgen. Kurz zuvor hat sie erfahren, dass zwei Freunde in den Kämpfen gegen die Türken als vermisst gelten. Sie ist eine der bekanntesten kurdischen Filmemacherinnen. Sie wird mir nur bis zum Abend helfen, dann muss sie sich um die Vermissten kümmern. So ergeht es in diesen Tagen vielen Menschen im kurdischen Verwaltungsgebiet: Sie irren durch ihr Land, sie planen nur für wenige Stunden im Voraus. Nichts ist absehbar, nichts planbar.

Oberflächlich wirkt das Land noch so wie vor zwei Jahren, als ich das letzte Mal hier war. Wir fahren durch die Ölgebiete gleich hinter der Grenze, uralte Pumpanlagen, umgeben von Ölseen, kleine Raffinerien, seit Jahrzehnten nicht gewartet. Rauchsäulen über ihnen. Die Erde überall ölverseucht.
Wir erreichen Kamischli, eine der beiden Großstädte in der Region. Seit den heftigen Kämpfen 2016 mit SDF-Einheiten sind die Regimetruppen hier auf wenige Häuserblöcke und den Flughafen zurückgeworfen. Die meisten Nachbarschaften kontrollieren die SDF, die hier auch ihre Ministerien unterhalten. Dazwischen die Straßenzüge zweier christlicher Milizen – die einen unterstützen das Regime, die anderen die SDF. Eine immer schon unwirkliche Situation. Auf der einen Straßenseite große Assad-Plakate, auf der gegenüberliegenden Seite Porträts des PKK-Führers Abdullah Öcalans. Assads Geheimdienstmänner essen in denselben Restaurants wie vom Regime gesuchte Journalisten und Aktivisten, das weiß hier jeder. Ein im syrischen Bürgerkrieg einzigartiger Ort. Eine Art Nichtangriffszone. Doch jetzt? Bisher gibt es noch keine Verhaftungen. Jeder fragt sich: Wie lange noch? Der Abzug der US-Truppen hat auch hier alle Regeln aufgehoben. Rasch fahren wir durch Kamischli.
Die Landschaft des Umlandes wird von hohen Erdwällen durchzogen, die Bagger in den vergangenen Tagen aufgeschüttet haben.
Die Militärführung der SDF hat für sicherlich einige Millionen Dollar komplexe Tunnelsysteme graben lassen, die in den Siedlungen jede Straße mehrfach miteinander verbinden, in denen man sich unterirdisch von Dorf zu Dorf bewegen kann. Vorbereitungen für den großen Angriff der Türken. "Wir haben keine Luftwaffe", sagen mir SDF-Kämpfer, "wir haben Tunnel." Die Kurden graben sich ein. Die türkischen Truppen und ihre Verbündeten kommen an der Front nur sehr langsam voran, weil sich die kurdischen Einheiten aus ihren Tunnelsystemen heraus verteidigen. Bis zu zehn Meter tief sollen die unterirdischen Bollwerke in die Erde gegraben worden sein. Tag und Nacht arbeiten derzeit die Bagger. "Wer gehen will, kann bitte gehen"
Nur zwei Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, im Dorf Amude, steht das dreistöckige Rundfunkhaus des einzigen unabhängigen kurdischen Radiosenders in Syrien, Arta.fm. Ein ehemaliger WDR-Journalist, Siruan Hadsch-Hossein, hat den Sender 2013 von Deutschland aus gegründet, mit Zentrale in Bochum. Der Sender hat in den vergangenen Jahren etwas fast Unmögliches geschafft: neutral zu berichten, manchmal sogar kritisch. Nicht immer war die vorherrschende kurdische Partei, die Partei der demokratischen Union (PYD), mit der Linie von Arta glücklich. 2017 stürmten bewaffnete Unbekannte gar ihre Studios, brannten sie nieder und bedrohten den Studioleiter mit dem Tode. Dann gab es internationale Proteste, Druck der USA, damals noch großer Verbündeter der PYD. Schließlich übte die Parteiführung öffentlich Abbitte und Arta sendete weiter. Niemand weiß, wie lange noch. Einige Redakteure sind bereits über die Grenze geflohen. "Wer gehen will, kann bitte gehen", sagt Hadsch-Hossein auf einer eilig einberufenen Betriebsversammlung.

Wen wird das Regime schonen, wen mit langjährigen Haftstrafen verfolgen? Immer wieder wägen die Moderatoren, die Nachrichtenredakteure, die Grafiker, die Entscheidung. Gehen oder hoffen? "Ich kann nicht länger bleiben", sagt eine der bisherigen Starmoderatorinnen. Eine junge Frau, Ende 20, die in Rojava durch ihre unbequemen Telefoninterviews berühmt wurde. Sie fasst nach, wenn Politiker ausweichen, kritisiert auf ihrem Facebook-Profil das Regime. "Ich kann mich nicht verbiegen", sagt sie. Tagsüber geht sie ihrer Arbeit im Radio nach, abends schließt sie sich im Schlafzimmer ihrer nah gelegenen Wohnung ein. Oft verlässt sie das Zimmer dann bis zum Morgen nicht mehr. Das Ende ihres Traums. Sie fühlt sich kraftlos. Sie weint. Sie trinkt zu viel.
Noch einmal schöpfen die Menschen Hoffnung, als an diesem Abend die Türkei einem Waffenstillstand zustimmt. In Ankara tritt der US-Vizepräsident Mike Pence bei einer Pressekonferenz auf und verkündet eine fünftägige Feuerpause. Doch die Hoffnung schwindet bald. Der Waffenstillstand wird damals wie heute nicht eingehalten, und die USA ziehen ihre Truppeneinheiten weiter ab.
"Wenn das Regime in seiner alten Form zurückkommt ..."
Mein neuer Übersetzer hat bis vor einer Woche für eine internationale Hilfsorganisation gearbeitet. Die NGO ist aus dem Land geflohen, er selbst wurde aus seinem Dorf vertrieben. Das Territorium, in dem wir uns bewegen können, wird in den nächsten Tagen immer kleiner. Die syrische Armee, unterstützt von russischen Soldaten, dringt immer tiefer in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete vor.
In Hassaka, der größten Stadt in Rojava, versucht das Regime bereits die Schulen zu übernehmen. Die Rektorin Cihan Kose, die einer Mittelschule mit 200 Schülern vorsteht, klagt, dass die Spannungen in der Bevölkerung zunehmen. Kinder würden kurdische Lehrer auf der Straße mit Steinen bewerfen. An einigen Schulen seien Bildungsinspektoren des Regimes aufgetaucht und hätten gefordert, das alte Curriculum wieder einzuführen – das vorschreibt, nur noch auf Arabisch, nicht mehr auf Kurdisch zu unterrichten. "Wir haben es bisher geschafft, sie freundlich davon abzubringen", sagt Kose.
Als die Inspektoren Assads auf einer Schule die syrische Flagge gehisst hätten, sei es den Lehrern der Selbstverwaltung gelungen, sie zu überreden, die Flagge wieder abzunehmen. "Es gibt noch keine Übereinkunft zwischen unserer Verwaltung und dem Regime, was mit den Schulen geschehen soll", so argumentiert die Rektorin. Und sie hofft, dass es nie zu einer solchen Vereinbarung kommen wird. "Wofür sind sonst 20.000 unserer Söhne und Töchter in den vergangenen Jahren gestorben?", fragt sie. Das Regime entschuldigt die Vorstöße mit den "Initiativen Einzelner". Noch ist das syrische Militär zu sehr beschäftigt, seine Truppen im Kurdengebiet zu stationieren. "Wenn das Regime in seiner alten Form zurückkommt", sagt Kosa, "kann ich nicht mehr unterrichten. Das verkrafte ich nicht. Ich kann das nicht tun."
Ihre Schule ist in diesen Tagen zur Zuflucht von Familien geworden, die vor den Kämpfen an der Grenze zur Türkei flohen. 300.000 Vertriebene soll der neue Krieg nach kurdischen Angaben bereits produziert haben. Die meisten fliehen innerhalb von Rojava. Doch schon füllen sich die Lager im nahen Irak. 900 Menschen sollen jeden Tag illegal die Grenze überqueren, und es werden mehr. Die Behörden der Selbstverwaltung haben bisher den meisten Menschen untersagt, Rojava zu verlassen. So wollen sie verhindern, das Kurdistan kampflos seine kurdische Bevölkerung verliert. Kritiker werfen der PYD vor, sie benutze Menschen als Schutzschilde.
Aus Hassaka, der Stadt, in der die Spannungen zwischen Kurden und Arabern wachsen, wo der neue Kulturkampf bald wieder auszubrechen droht, fahren wir nach Osten, nach Al-Hol, in eine Kleinstadt in der Wüste. Staub weht über die Landstraße, nur wenige Checkpoints der SDF sichern den Weg. "Es ist hier nicht sicher", sagt mein Übersetzer, der Kurde ist. Er ist nervös nur aus einem Grund: Alle Dörfer in der Gegend sind von Arabern bewohnt. Hinter dem kleinen Örtchen im Nirgendwo erstreckt sich eine riesige Zeltstadt. Bis zu 71.000 Menschen sollen hier untergebracht sein, rund die Hälfte, so heißt es, Angehörige des "Islamischen Staats". Die weißen Planen der Zelte bedecken mehrere Hügelkuppen. Nirgendwo auf der Welt sind mehr IS-Anhänger inhaftiert als hier. Unter ihnen sollen auch mindestens 90 Erwachsene und 110 Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit sein.
Bislang hatte die deutsche Regierung, entgegen gesetzlicher Verpflichtungen, nichts getan, um die Familien aus Syrien nach Deutschland zurückzuholen. Die große Angst jetzt: dass die IS-Mitglieder das Chaos nutzen könnten, um auszubrechen, Anschläge zu verüben, eine neue Armee zu formieren. Der Lagerkommandant sitzt in einem Container in einem heruntergekommenen Büro. Das Polster der Sofas ist aufgerissen. Dreck bedeckt den Boden. Müde hocken die kurdischen Wachleute vor ihm. Es gibt Gerüchte, wonach zwei Drittel der Sicherheitskräfte von hier abgezogen worden sind, um die Front zur Türkei hin zu verstärken. "Jeden Tag versuchen Leute, von hier zu fliehen", sagt der Kommandant, der seinen Namen mit Haval (Kamerad) Imad angibt. Die Frauen versuchten nachts mit Messern und Beißzangen Löcher in den Lagerzaun zu schneiden. Aber die Situation sei unter Kontrolle. Die Bewacher seien mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, alle Fluchtversuche habe man bislang verhindert. "Macht euch keine Sorgen", sagt der Kommandant, doch wirkt er wenig überzeugend. Er wirkt sehr müde.
Fünf Tage bleibe ich in Syrien und jeden Tag wirkt die Lage unübersichtlicher. Nicht nur an der türkischen Grenze brechen Kämpfe aus, sondern auch im Hinterland. Über Telefon berichten mir Freunde, sie könnten mit ihren Familien nicht ihre Dörfer verlassen, weil SDF-Einheiten gegen türkisch unterstützte Milizen kämpften. An der Grenze zur Türkei gehen die Kämpfe weiter, trotz diverser Waffenstillstandsverkündigungen. Als wir auf einer Nationalstraße an einem Stützpunkt der US-Truppen vorbeifahren, groß hängt noch das Sternenbanner über den Mauern, schlägt eine Granate ein. Sie explodiert mit großem Rauchpilz wenige Meter vor der US-Base, unklar, ob jemand die Amerikaner angreift oder sie selbst uf Angreifer vor dem Stützpunkt gefeuert haben.
"Verräter", rufen Menschen, die sich auf den Straßen in Kamischli den abziehenden US-Konvois entgegenstellen. Sie bewerfen die gepanzerten Fahrzeuge mit Tomaten und Kartoffeln. So schmählich ist in der jüngeren Geschichte selten eine Armee abgezogen.
Konvois unterschiedlicher Nationalitäten befahren die Straßen, Konvois unter US-Flagge begegnen russischen Konvois. Dazwischen die syrische Armee, die erst nur zögerlich, dann massiv Truppen in den Norden schickt. Auch das Regime in Damaskus schien überrascht von der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Syrien zu verlassen. Assad hat eine Weile gebraucht, um Soldaten zu finden, die das Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung, immerhin ein Drittel Syriens, wieder in Besitz nehmen sollen. Jetzt kommen sie mit allem, was fährt: in Bussen und auf den Ladenflächen von Lastwagen, in Truppentransportern und Privat-Pkw. In diesen Tagen entsteht eine gefährliche Nähe von Armeen, die bis vor Kurzem noch aufeinander geschossen haben.
Mittlerweile kämpfen türkische Truppen direkt gegen syrische, mehr als ein Dutzend Soldaten Assads sollen bereits getötet worden sein. Wir stoppen bei unseren Fahrten bei jedem Checkpoint und fragen, wie sicher die Strecke vor uns ist. Meist stehen nur zwei, drei junge SDF-Kämpfer auf der Straße, ein altes Gewehr um die Schulter, unsicherer Blick. Es sei sicher, sagen sie – sonderlich beruhigt ihre Versicherung nicht.
Zurück im Dorf mit dem Radiosender, Amude, kurz vor dem Eintreffen der Regimetruppen. Siruan Hadsch-Hossein sitzt im dritten Stock mit famosem Blick auf die nahe türkische Grenze. Der Tisch ist gedeckt mit Früchten und Speisen, vielleicht das letzte Mal. Am nächsten Morgen wird der Radiodirektor über die Grenze in den Irak ausreisen, auch er hat Angst vor der Verhaftung. In den Stockwerken unter ihm senden die Moderatoren währenddessen unverdrossen Berichte über den Krieg, über die steigenden Preise, Waffenstillstandsverhandlungen, befragen kurdische und syrische Politiker. Doch bald schon könnte der Betrieb des Senders eingestellt und das Haus von Soldaten geplündert werden.
Erst im Juli war der Neubau in Amude eingeweiht worden. Hosseins ganzer Stolz. Nie hatte der Deutsche für sein Projekt Unterstützung aus Deutschland erfahren. Sein Radio wird finanziert von den USA, Frankreich und Dänemark. In der Vergangenheit unterstützte die deutsche Entwicklungshilfe ausschließlich Projekte im türkisch kontrollierten Nordwesten Syriens, in Idlib, der Bastion der islamistischen Milizen. Nach Auskunft der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstütze man die Kurden nicht, das gebe das "politische Mandat" nicht her. Der offensichtliche Grund: politische Rücksichtnahme auf die Türkei.
Die letzten Stunden in Syrien. Uns allen, die in den vergangenen Jahren aufseiten der Opposition über den Krieg in Syrien berichtet haben, ist klar, dass unter der Kontrolle des Regimes die Einreise nicht mehr möglich sein wird. Ich verabschiede mich von einem Freund in Kamischli, Schriftsteller und Übersetzer. "Die Kurden sind das Schlachtlamm", sagt er mutlos, "vom Schicksal ausersehen, geschlachtet zu werden." Wir sitzen auf der Terrasse meines Lieblingscafés, da explodiert nur einen Kilometer von uns entfernt in der Innenstadt Kamischlis eine Autobombe. Ein erster Anschlag gegen einen Checkpoint des Regimes, so erfahren wir, es gibt keine Toten. Doch brechen wir abrupt auf. Wir haben Sorge, dass nun Kämpfe ausbrechen zwischen dem Regime und Kurden, die ihre Kapitulation gegenüber Assad nicht hinnehmen wollen. Mein Freund, der Schriftsteller, der die PYD immer kritisiert hatte und deswegen keine Aufträge bekam, allerdings auch nie verhaftet wurde, will mit seiner Familie bald nach Damaskus fliehen. Nach dem Abzug der Amerikaner, fürchtet er, wird hier für viele Jahre kein Frieden einkehren.

Dann sitze ich wieder in dem Bus, der mich über die Brücke fährt, auf das irakische Ufer. Ich drehe mich noch einmal um und sehe hinüber. Es sind immer noch nur wenige Meter Wasser, und doch ist das andere Ufer so fern wie noch nie.